
Kleinstadtbiotop Vöcklabruck
28. Oktober 2025Gerhard Filzwieser ist Eigentümer der Industrietechnik Filzwieser in Gaflenz, NÖ. Das Unternehmen mit rund 100 Mitarbeiter:innen
ist auf Folienextrusion und Spritzgusstechnik spezialisiert.
Als „Lotse“ und „Unbequemdenker“ begleitet er
sein selbstorganisiertes Team durch die Herausforderungen der Zeit. Neben seiner unternehmerischen Tätigkeit schreibt und fotografiert er. Und öffnet mit „Neuland“ einen Raum für den offenen Austausch unter Menschen mit Führungsverantwortung.
www.rosaundblauamsee.at

Als Unternehmer wagte ich einen radikalen Schritt: Ich verabschiedete mich von alten Werten und Struk-
turen, weil sie nicht mehr zu mir passten. Eine Geschichte des Loslassens und des Wachstums.
Schon wenn wir diese Welt das erste Mal betreten, müssen wir akzeptieren, dass unser gesamtes Leben vom
Loslassen geprägt sein wird, auch wenn uns das oft nicht bewusst ist. Sozialisiert werden wir allerdings im Ansammeln und Bewahren, sei es in Bezug auf materielle Dinge, Macht, Meinungen oder auch Beziehungen. Doch alles, was uns im Leben begegnet, ist nicht von unendlicher Dauer.
Ich bin Unternehmer und Eigentümer eines produzierenden Unternehmens. Ursprünglich war unsere Organisation klassisch hierarchisch strukturiert. Alles schien „gut“ – oder sagen wir, rückblickend betrachtet, „nicht ausreichend reflektiert“. Erst ein persönlicher Wertewandel führte mich zu einer grundlegenden Neubewertung.
Ich begann mich von dem klassischen „höher, schneller, weiter“ in allen Lebenslagen zu lösen und erkannte, dass unser Verstand nur ein Werkzeug ist. Und dass das daraus entstehende Ego oft hinderlich sein kann. Doch es gibt mehr. Nennen wir es Bewusstsein, Gefühl oder Herz – ganz gleich, welchen Namen wir ihm geben.
Plötzlich stellte sich mir eine entscheidende Frage: Fühlt sich mein unter-nehmerisches Handeln, fühlt sich unser gesamtes Wirtschaftssystem noch richtig an? Die Antwort war ein klares „Nein“.
Mir wurde bewusst, dass die Zeiten längst vorbei sind, in denen die Wirtschaft vorrangig den Menschen diente. Das Verhältnis hat sich umgekehrt: Heute scheint es, als müssten die Menschen der Wirtschaft dienen. Sie sind Produktionsfaktoren und gleichzeitig manipulierte Konsumenten, Diener einer Profitmaximierung und eines permanenten Wachstums. Für materiellen Wohlstand, Macht und Positionen opfern wir häufig den
wahren Sinn des Lebens.
Der Beginn des Loslassens
Diese alten Überzeugungen habe ich hinter mir gelassen. Gemeinsam mit meiner Frau als „Sparringpartnerin“ entwickelte sich schrittweise eine neue Perspektive. Unser unternehmerisches Handeln bekam einen tieferen Sinn. Wir stellten uns die Frage, warum wir alle täglich in dieses Unternehmen gehen.
Plötzlich stand nicht mehr der Profit als Selbstzweck im Vordergrund, sondern die Erkenntnis, dass wirtschaftlicher Erfolg in erster Linie dazu dient, den Menschen im Unternehmen eine sichere Existenz zu ermöglichen. Gleichzeitig sollte der Betrieb ein Ort sein, an dem sich Mitarbeitende entfalten können. Der Gehirnforscher Gerald Hüther beschreibt Entfaltung als einen Urinstinkt jedes Lebewesens.
Mit dieser neuen Haltung dauerte es nicht lange, bis sich Hierarchien, Abteilungen und klassische Stellenbeschreibungen nicht mehr richtig anfühlten. Das nächste Loslassen stand an. Wir ersetzten all das durch Eigenverantwortung und Selbstorganisation.
Am Ende dieses Prozesses hatten wir keine Chefs mehr, keine Abteilungsleiter und auch keine klassischen Ziele. Denn wir erkannten: Unsere Welt ist zu komplex, als dass eine einzige Person – der Chef – die alleinige Entscheidungshoheit über richtig oder falsch haben könnte.
Ziele, die unser Verstand produziert, sind oft starr und passen nicht zum Rhythmus des Lebens. Die zunehmende Notwendigkeit, integrativ zu denken, erfordert Vielfalt – und diese muss sich frei entfalten dürfen.
Kann das funktionieren? Aus Erfahrung kann ich sagen: Ja, es funktioniert.
Natürlich ist es nicht einfach. Wenn man Menschen das gewohnte Geländer aus klaren Strukturen und fremdbestimmten Zielen nimmt, fühlen sie sich anfangs unsicher. Doch mit der Zeit entstehen neue Möglichkeiten.
Das Ego als Störfaktor
Was schnell sichtbar wurde: Ego stört. Es braucht das Bewusstsein, dass ein „Wir“ größer ist als das „Ich“. Diese Erkenntnis hat eine immense Tragweite. Doch der Lohn ist ebenso groß. Mit der Zeit entsteht eine nahezu
ego-freie Zone – ein Umfeld, in dem Zusammenarbeit auf Vertrauen basiert. Loslassen von Hierarchie bedeutet zwangsläufig auch Loslassen von Kontrolle. Für viele mit traditionellem Führungsverständnis eine beunruhigende Vorstellung. Doch anstelle von Kontrolle tritt Vertrauen. Machen Menschen in einem solchen System Fehler? Natürlich. Doch es braucht eine neue Kultur im Umgang mit Fehlern. Fehler sind keine Niederlagen, sondern wertvolle Erfahrungen, die uns zeigen, was funktioniert – und was nicht.
Die Zukunft liegt im Jetzt
Wir leben in einer Zeit des Wandels. Alte Fragen, Antworten und bewährte Modelle sind längst keine Garantie mehr für den richtigen Weg. Im Gegenteil:
Sie kosten oft mehr Energie, als sie bringen, und halten uns in einer Welt gefangen, die es so nicht mehr gibt. Was sich bewährt hat, ist das Vertrauen darauf, dass sich immer genau zur richtigen Zeit zeigt, welches Thema gerade Beachtung braucht. Wir müssen nicht alles mit dem Verstand durchplanen. Viel wichtiger ist es, wachsam zu sein für die Möglichkeiten, die sich im Moment bieten – und darauf einzustimmen. Der Fokus liegt nicht darauf, was wir glauben tun zu müssen, sondern darauf, was jetzt sinnvoll und möglich ist.
Ein Raum für Neues
Loslassen und Neues entstehen lassen, das ist für mich der Kern persönlicher Entfaltung. Und für Entfaltung braucht es Räume. Einen solchen Raum haben wir nun in Kärnten auch „physisch“ geschaffen für Menschen, die wieder Lebendigkeit spüren möchten. An einem keltischen Kraftplatz mit einem Pfarrhaus aus dem Jahr 1820 und einem wunderschönen Garten möchten wir das Credo „Ein Ensemble der Merkwürdigkeit in dem sich Altes auflösen und Neues entwickeln kann“ mit Leben füllen.
