Werte sind die stillen Architekten unseres Handelns. Sie schenken Orientierung, begrenzen, setzen Prioritäten, verleihen Drall. Nach längerer Flaute erfreuen sie sich neuer Popularität, werden jüngst gerne und bei vielen Gelegenheiten ins Spiel gebracht. Vor allem in der Wirtschaft. Das mag auch den zahlreichen Krisen liegen, die wir zur Zeit erleben.
Lange schien es, als wären Werte in der Wirtschaft nicht mehr als wohlklingende Bekundungen von Unternehmen. Schmuck, ohne viel Substanz, Fundament oder gelebte Überzeugung. Was wirklich zählte, waren Wachstum und Erfolg. Sie brachten materielle Werte, Wohlstand, Sicherheit und Anerkennung - meist Einzelnen, selten allen. In Österreich immerhin einer Vielzahl.
Doch trotz der Annehmlichkeiten, die erwirtschaftet wurden, litt, so scheint es, unser Vertrauen in Selbstwirksamkeit. Zunehmende Komplexität und echte Bedrohungen lösen heute eher Resignation und Erschöpfung aus, als ein lustvolles oder kreatives „Wir schaffen das“. Mit der Fallhöhe stieg die Angst. Längst erscheint Zukunft bedrohlich, insbesondere in Europa, wo die Sorge wächst, im globalen Wettbewerb den Anschluss zu verlieren. Hinzu kommen eine nachrückende Generation, die den Erwartungen und Versprechen der Wirtschaft mit skeptischer Distanz begegnet, Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse kritisch hinterfragt und angesichts typischer Hamsterräder die Sinnfrage stellt. In einer solchen Rahmung wächst die Sehnsucht nach Klarheit und Verbindlichkeit. Und so feiert im zähen Ringen um mehr Mut, Hoffnung und Motivation die Besinnung auf ideelle Werte eine Renaissance. Doch diese sind, ernst genommen, deutlich anspruchsvoller, als wir es von unserem eigenen Marketingsprech gewohnt sind. Fordern Konsequenz, Ehrlichkeit - und häufig auch Verzicht.
Werte als Kompass
Ideelle Werte sind Überzeugungen, die uns verlässlich und dauerhaft begleiten, ohne dabei unumstößlich zu sein. Aus ihnen leiten wir Prinzipien und Normen ab, die unsere Weltsicht, unsere Entscheidungen und unsere Beziehungen prägen. Als Leitplanken kultureller Entwicklung werden sie in ihrer Bedeutung stets neu gewichtet, zeigen jedoch meist in ihrer Essenz eine bemerkenswerte Widerstandskraft. Das muss nicht zwangsläufig Gutes bedeuten: Werte bringen stets konstruktive wie destruktive Aspekte mit sich. So kann der Wert „Freiheit“ Selbstbestimmung und Unabhängigkeit forcieren, aber auch Verantwortungslosigkeit oder den Mangel an Solidarität. - Dennoch geben Werte Halt. Geteilte Überzeugungen durchdringen jede Organisation - und damit auch jedes Unternehmen. Gelegentlich sind es die Werte und Visionen der Gründer:innen, die nachwirken – besonders, wenn sie weiterhin Führungsverantwortung tragen.
Die Backstory und die ursprünglichen Intentionen werden in solchen Betrieben liebevoll bewahrt und weitererzählt: Held:innen-Reisen von kreativen Pionier:innen, die in leergeräumten Garagen an ersten Ideen feilten, belächelt wurden – und schließlich Erfolg hatten. Doch mit Wachstum, strategischer Neuausrichtung oder einem Wechsel in der Führung oder Eigentümerschaft können Bezugspunkte verblassen. Zudem hat nicht jede Organisation eine eindrucksvolle Gründungsgeschichte, auf die sie sich berufen kann. Viele Unternehmen wurden aufgebaut, um einen Bedarf zu decken und Geld zu verdienen - was mehr als legitim ist.
Letztlich entscheidet die Führung, ob einer Werte-Orientierung Raum gegeben wird. Doch lässt sich Unternehmenskultur nicht durch Vorstandsbeschluss verordnen. Sie gedeiht im gelebten Alltag, in Interaktionen, in der Art, wie Entscheidungen getroffen werden. Oft entwickelt sich dabei kein homogenes Bild, sondern eine polyphone Struktur: Was in der Innovationsabteilung als kreative Fehlerkultur gefeiert wird, ist in der Produktion ein Haftungsrisiko. Werte sind selten monolithisch – sie sind dialektisch, wandelbar, kontextgebunden.
Ein ehrlicher Werteprozess beginnt nicht mit Deklarationen, sondern mit Zuhören. Er setzt voraus, dass eine Organisation sich ihrer selbst bewusst wird, nicht nur in Zahlen, sondern in den feinen Strukturen des Alltags. Dass sie versteht, was Kunden von ihr erwarten, welche Verpflichtungen sie gegenüber der Gesellschaft trägt, welche Prägungen ihre Geschichte hinterlassen hat.
Prinzipientreue vs. Profitabilität
Organisationen, die ihre Prinzipien als verbindliches Koordinatensystem begreifen, stehen in bewährter Tradition. Sie folgen der Logik, dass Vertrauen eine Währung ist, die sich verzinst – langsam, aber stetig. Vertrauen verdient, wer bereit ist, proaktiv Verantwortung zu übernehmen, mitunter auch gegen den eigenen Vorteil. Und Werte müssen konkretes Handeln befeuern, sonst bleiben sie ein bloßes Postulat – ein dekoratives Zitat auf der Website oder an der Empfangswand.
Widersprüche führen schnell in
ein Dilemma: Ein Unternehmen kann nur so integer handeln, wie es sein ökonomischer Rahmen zulässt. Viele werteorientierte Entscheidungen mögen langfristig richtig sein, im besten Fall enkeltauglich, und Kund:innen, Mitarbeiter:innen und Partner:innen schätzen Verlässlichkeit – selbst wenn sie es nicht immer artikulieren. Eine Marke, die hält, was sie verspricht, ist auch kein romantisches Ideal, sondern ökonomische Klugheit. Doch kurzfristig – Stichwort Quartalszahlen – sind pragmatische Entscheidungen oft zielführender. Sie sind der Schlüssel zu schnellen Erfolgen – oder gar zum Überleben. Die Wahl zwischen Prinzipientreue und Profitabilität ist somit nicht nur eine moralische, sondern vor allem eine strukturelle Frage. Allerdings wird noch immer gesellschaftlich wünschenswertes Wirtschaften – etwa nachhaltiges oder faires – strukturell benachteiligt. Kurzum: Wir sollten über die Spielregeln nachdenken.
Steuern als Steuerung?
Wenn Werte in der Wirtschaft eine größere Rolle spielen sollen, reichen Appelle an den Anstand - neudeutsch: an die Corporate Social Responsibility - nicht aus. Es braucht echte Anreize, strukturelle Mechanismen, die ein gesellschafts- und umweltfreundlicheres Wirtschaften ermöglichen und belohnen. Eine denkbare Antwort liegt im Steuersystem.
Bei der Berechnung von Unternehmenssteuern ließen sich gesellschaftlich relevante Kennzahlen berücksichtigen: die Dauer von Beschäftigungsverhältnissen, geschlechtergerechte Bezahlung, Investitionen in Weiterbildung, gesunde und familienfreundliche Arbeitsbedingungen, die bewusste Auswahl von Lieferant:innen und Rohstoffen, besondere Produktgarantien, ein schlanker CO₂-Fußabdruck – und vieles mehr. Wer belegen will, dass Verantwortung nicht nur proklamiert, sondern gelebt wird, könnte steuerlich entlastet werden. Dabei bliebe es den Betrieben selbst überlassen, welche Aspekte – und damit welche Werte – sie besonders gewichten. Niemand wäre zur Teilnahme gezwungen: Wer sich als „Black Box“ entziehen möchte, zahlt einfach den dann höheren Maximalsteuersatz.
Konkretere Vorschläge dazu gibt es seit geraumer Zeit, zuletzt verstärkt von den Proponent:innen einer Gemeinwohl-Ökonomie. Sie schlagen vor, Unternehmen eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen zu lassen.
Solche und ähnliche Systeme sollten nicht als starre Konstrukte verstanden werden, sondern bewusst flexibel gestaltet sein – sodass sie sich kontinuierlich an gesellschaftliche Entwicklungen anpassen und weiterentwickeln. Statt Unternehmen durch starre Vorgaben zu beschränken, würde man sie ermutigen, sich als Teil eines größeren Ganzen zu verstehen. Steuern könnten stärker das tun, wofür sie ihrem Namen nach stehen: steuern.
Besonders niedrige Steuersätze wären dann kein Makel mehr, sondern eine Auszeichnung für verantwortungsbewusstes Wirtschaften – und so auch ein starkes Signal für Employer Branding und Marketing.
Das Fazit bleibt offen
Werte sind keine Exklusivität des Wirtschaftlichen. Sie sind Teil der größeren Erzählung menschlicher Organisation. Ob sie Substanz haben oder reine Rhetorik bleiben, zeigt sich nicht in den Manifesten der Konzerne, sondern in den Entscheidungen des Alltags.
Am Ende bleibt nur die Frage: Werden Unternehmen in Zukunft für Werte belohnt, oder werden Werte weiterhin das erste Opfer wirtschaftlicher Zwänge sein? Die Antwort darauf entscheidet nicht nur über Unternehmen. Sie entscheidet über Gesellschaften.




